Textproben

Artikel-Archiv Beate Berger

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Reportagen, Interviews, Rezensionen, Portraits – Paradestücke aus dem Arbeitsarchiv 

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Tante KAROs Gefühl für Stil

Titelseite Tante Karos Gefühl für Stil

Vorwort

Barbara holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Eigentlich gab es keinen Grund zur Aufregung. Das Schlimmste hatte sie ja vermutlich schon überstanden. Sie war, ohne zu stolpern, über den roten Teppich gelaufen, und sie war froh, dass kein einziger Reporter sie um ein Interview gebeten hatte.

Dass man sie nicht weiter beachtet hatte, war kein Wunder. Vor ihr hatten Nicole Kidman und Hugh Grant den Parcours abgeschritten. Und gleich nach ihr war Hilary Swank in einer goldfarbenen Robe wie eine wehrhafte Königin herangerauscht. Die Fernsehteams hatten so heftig um die Weltstars gerangelt, dass Barbara von einem rüden Kameramann sogar beinahe überrannt worden wäre. Doch zum Glück hatte sie Fred dabei. Ihr heldenhafter Mann hatte sie mit der Tatkraft eines Bodyguards untergehakt und unbeeindruckt von allen Attacken und Hindernissen sicher bis zu ihren Plätzen geführt.

Ähnlich nervenstark war am frühen Nachmittag auch ihre Pariser Freundin Madeleine zu Werke gegangen. Sie war gerade wegen einer Fotoproduktion für die italienische Vogue in Los Angeles. Madeleine hatte innerhalb von zwei Stunden das quasi Unmögliche geschafft: Sie hatte aus Barbaras feinen Haaren eine Hochfrisur gezaubert, die mit dem Haarkunstwerk, das Julianne Moore in dem Film A Single Man getragen hatte, durchaus eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Barbaras Herz hatte einen Sprung gemacht, als sie sich schließlich von allen Seiten im Spiegel betrachten konnte. Madeleine hatte schon oft wahre Wunder vollbracht, aber dies war mehr als eine Frisur. Es war ein Kunstwerk. Wie sollte sie ihr dafür nur danken?

Und auch Tante Karo kann ich gar nicht genug Dank ins Jenseits schicken, dachte Barbara, während sie die Rockfalten ihrer Dior-Robe ordnete. Seltsamerweise hatte sie lange gezögert, ob sie das kostbare Erbstück aus dem Fundus ihrer mondänen Tante Karo an diesem Abend tragen sollte. Es war keineswegs der Vintage-Charakter des Kleides, der sie verunsichert hatte, es war das Kleid selbst. Es war ein Entwurf aus den späten fünfziger Jahren, der allerdings kein bisschen angestaubt wirkte. Im Gegenteil, die Robe hatte etwas erhaben Zeitloses, eine geradezu unverwüstliche Eleganz. Keine Frage, das Kleid saß wie maßgeschneidert und es passte perfekt zu diesem Anlass. Dennoch hatte sie sich immer wieder gefragt, ob sie diesem Juwel überhaupt je gerecht werden könnte.

Als Barbara ihre Augen wieder öffnete, war sie froh um diesen Glamourpanzer. Er hielt sie gewissermaßen zusammen, er stärkte sie und verlieh ihr das Gefühl, gewappnet zu sein. Julia Roberts war gerade auf die Bühne gekommen und zupfte mit komödiantischer Umständlichkeit prüfend an der Korsage ihrer feuerroten Valentino-Robe herum. Dann wandte sie sich an das Publikum: »Guten Abend, meine Damen und Herren. Verzeihen Sie mir bitte die Eitelkeit, aber heute lege ich ganz besonders großen Wert auf einen tadellosen Auftritt, denn ich habe die Ehre und das besondere Vergnügen, Ihnen die Oscar-Preisträgerin für das beste Kostümdesign vorzustellen.«

Barbara spürte, wie ihre Hände und ihre Knie zu zittern anfingen.

»Fred, ich fürchte, ich werde gleich ohnmächtig«, flüsterte sie ihrem Mann ins Ohr.

Er nahm Barbaras Hand und umschloss ihre eiskalten Finger so sanft, als wolle er ein aus dem Nest gefallenes Küken in Sicherheit bringen. Natürlich wusste er, warum seiner Frau gerade die Sinne schwanden: Sie gehörte zu den fünf Auserwählten, die in der Sparte Kostümdesign für einen Oscar nominiert waren, deswegen saßen sie beide auch hier im Dolby Theatre in Los Angeles.

Für Barbara war es allerdings kaum ein Sitzen, sondern viel eher ein bibberndes Schweben, das sich seit Beginn der Gala von Minute zu Minute gesteigert hatte. Wie lange dauerte die Show nun schon? Ungefähr die Hälfte aller Oscars war bereits verliehen worden, für den besten Nebendarsteller, den besten animierten Spielfilm, den besten Song, das beste Drehbuch, den besten animierten Kurzfilm, den besten Dokumentarkurzfilm, den besten Kurzfilm, das beste Make-up, das beste adaptierte Drehbuch, die beste Nebendarstellerin und, und, und … 

Und jetzt war es endlich so weit. Gleich würde bekannt gegeben werden, wer den Oscar für das beste Kostümdesign gewonnen hatte. Barbara konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so nervös gewesen zu sein. Aber sie war ja auch noch nie für einen Oscar nominiert worden. Andere für ihre Auftritte auszustatten, gehörte für sie zum Alltag. Sie selbst hatte jedoch noch nie direkt im Scheinwerferlicht gestanden. Wenn sie nun tatsächlich die begehrte Trophäe gewinnen sollte, würde sie ganz alleine auf die Bühne gehen, den Preis in Empfang nehmen und auch noch etwas halbwegs Sinnvolles sagen müssen. Wie sie all das mit zittrigen Knien, einem bodenlangen Kleid und Plateau-Sandaletten souverän bewerkstelligen sollte – vor all den vielen Kameras und Zuschauern auf der ganzen Welt, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen.

Andererseits war es eher unwahrscheinlich, dass sie den Preis bekommen würde. Sie war ein unbeschriebenes Blatt in Hollywood und zudem die Jüngste unter den  nominierten Kostümdesignern. Außerdem war auch die bekannte Sandy Powell nominiert, die schon etliche Oscars erhalten hatte, unter anderem für die Kostüme in Shakespeare in Love, The Aviator und Young Victoria. Auch Sandys jüngste Arbeit, für einen Agententhriller im Rio de Janeiro der sechziger Jahre, war grandios.

In Anbetracht dieser übermächtigen Konkurrenz war es klug, sich auf die Rolle der Verliererin vorzubereiten. Aber auch die Verlierer kamen ins Bild, und auf gar keinen Fall durfte man sich auch nur die geringste Enttäuschung anmerken lassen. Fred ahnte wohl, was in Barbara vorging.

»Barbara«, flüsterte er, »egal, wie das hier gleich ausgehen wird, du hast jetzt schon gewonnen. Du hast es nach Hollywood geschafft. Bleib cool und denk an Tante Karo!«

Die Bühne hatte sich mittlerweile in ein funkelndes Modekarussell verwandelt. Die Models posierten in den schönsten Kostümen der nominierten Filme. Julia Roberts stellte alle Produktionen und ihre jeweiligen Kostümdesigner vor. Neben Sandy Powells farbenprächtigen Rio-Outfits waren prunkvolle Kostüme aus der Zarenzeit zu sehen, Spaciges aus einem Science-Fiction-Film und hinreißende Abendkleider aus einem Tanzfilm, der im Paris der dreißiger Jahre spielte. Musikalisch begleitet wurden die kleinen theatralischen Szenen mit Ausschnitten aus den Originalsoundtracks. Barbaras Kostüme waren ganz zum Schluss an der Reihe. Ein Mix aus Glamrock und Motown versetzte das Publikum in ein Amerika, das gerade den Mond erobert hatte, und barst vor Stolz und Aufbruchsstimmung.

Barbara war mittlerweile starr vor Aufregung, sie musste sich konzentrieren, um mitzubekommen, was Julia Roberts über ihre Entwürfe sagte. Wie durch Wattewolken hörte sie ihre Ankündigung.

»Meine Damen und Herren, zuletzt möchte ich Ihnen die Kostüme des Films Big Hair vorstellen. In diesem Film geht es um einen Mann, der zeitlebens von sich behauptet hat, er sei ein Diener. Diese Bescheidenheit ist typisch für ihn, aber sie steht vollkommen im Kontrast zu seiner wahren Bedeutung. Er stand zwar sein ganzes Leben lang im Dienste der Schönheit, war also streng genommen tatsächlich ein Diener, doch er war und ist auch ein König zugleich, eine Legende seines Fachs: Kenneth Battelle, einer der besten Friseure der Welt. Zu seinen treuen Kundinnen gehörten die Diven des Films, der Mode und nicht zuletzt auch der Politik. Kenneth war der Lieblingsfriseur von Jackie Kennedy und Marilyn Monroe. Diese Tatsache allein zeigt, dass dieser Mann neben seinen Friseurkünsten auch die Kunst der Diplomatie beherrschte. Bob Pancinis Film ist eine Hommage an diesen König der Haute Coiffure und er ist gleichzeitig auch eine berührende Referenz an all die wunderbaren Menschen hinter den Kulissen, die mit ihrem künstlerischen und handwerklichen Knowhow für perfekte Auftritte sorgen. Die Kostüme für Big Hair hat eine Newcomerin aus Deutschland entworfen: Barbara Sommer.«

Bikini – Eine Enthüllungsgeschichte

Foto Bikini Buch

Vorwort – Heimweh nach Bikini

Schon der Klang! Das Wort zaubert jedem ein dreifach getüpfeltes Lächeln ins Gesicht. Zuerst das freundlich-mollige B, dann die drei kecken Is; sonniger geht es kaum: Bikini! Wie überhaupt Wörter mit vielen „I“s oft putzig wirken. Schon bei Chichi oder Mini oder Twiggy huscht uns ein Schmunzeln über die Lippen. Wie strahlt der Mensch erst bei Rimini oder Itsy-bitsy-teeny-weeny-Honolulu-Strandbikini!

Ausnahmen gibt es natürlich auch immer. ‚Hotte’ Buchholz zum Beispiel verging ganz schön das Lachen, als er in Billy Wilders Film „Eins, zwei, drei“ den Erzkommunisten Otto Ludwig Piffel spielte, der von seinen Widersachern eingesperrt und so lange mit dem Itsy-Bitsy-Song zugedudelt wurde, bis er vor Verzweiflung gestand, er sei eigentlich ein amerikanischer Spion.

Frauen wissen es schon lange: Wechselbäder der Emotionen gehören zum Zweiteiler wie der Sand zum Strand. Den einen ist er die reine Wonne, den anderen die schiere Folter. So ist das eben mit dem Bikini. Warum? Vielleicht weil er das intimste Kleidungsstück ist, was Frauen öffentlich tragen, nur durch den Stoff von der Unterwäsche unterscheidbar und genau wie diese zwei, drei Handgriffe von der völligen Nacktheit entfernt. Ein paar Stoffdreiecke, ein paar Schnürchen, ein gnadenloses Nichts eigentlich,  das ob der freigelegten Mitte wenig Spielraum lässt für figurschmeichelnde Trompe-l’œils. Im Bikini tritt die Frau der Welt gegenüber wie sie ist. Das war und ist nicht immer einfach. Nicht für die Frau und nicht für die Welt, die die Frau an sich schon des öfteren nicht so wollte, wie sie ist.

Bikiniauftritte müssten immer so souverän sein wie die von Ursula Andress in Dr. No. Daran gab es für uns, meine Schulfreundin Annette und mich, nie auch nur den geringsten Zweifel. Wenn Bikini, dann wie die Andress! „Oder wie  Tante U“, ergänzte Annette gerne. Wie Tante U wirklich hieß, interessierte nie, denn U passte. Es klang nach Unabhängigkeit, nach Urlaub, nach großer weiter Welt eben. Das Tollste an Tante U war nicht allein, dass sie so wahnsinnig mondän rauchen konnte. Vollkommen hin und weg war man, wenn sie bei sommerlichen Temperaturen in ihrem Bikini aus tadellos weißem Piquéstoff einfach so im Garten saß und rauchte. Wie die bezaubernde Jeannie tauchte sie auf in unserer Kinderwelt. Wenn sie da war, spürte man einen Hauch von Côte d’Azur, von Costa Smeralda, mitten in Kaiserslautern.

Dort, in der allertiefsten Pfalz gab es in den 60er und 70er Jahren eigentlich nur eine echte Attraktion, den Betzenberg. Für Jungs wiederholte sich dort Samstag für Samstag das Wunder von Bern, aber für Mädchen war die Heimstatt von Fritz Walter & Co. keine wirkliche Verheißung. Tante U im Bikini dagegen war dies sehr wohl. Rare Fixsterne wie sie beflügelten unsere Mädchenphantasien; so wie sie wollte man später einmal sein, chic, unwahrscheinlich chic. Beschwingt würde man dann wie meine ebenfalls sehr chice Tante Inge aus Karlsruhe in einem himmelblauen VW Käfer-Cabrio in die Ferien brausen, mit wehenden Seidenschals ins Freie, in die Sonne. Und im Koffer einen Bikini – `a la U oder Andress natürlich.

Meine himmelblaue Cabrio-Tante Inge habe ich leider nie im Bikini gesehen. Wobei ich mir heute ziemlich sicher bin, dass sie einen hatte. Annettes Mutter hatte keinen und meine ebenfalls nicht. So kam es, dass wir als Kinder den weiblichen Teil der Menschheit in zwei Lager teilten. In Frauen, die Einteiler hatten und Frauen, die Bikinis trugen. Lange Zeit war der Bikini ein ganz klarer Geheimcode für uns. Unter anderem wussten wir, dass die Bikini-Frauen rumkamen in der Welt. Sie fuhren an die Adria, an die Costa Brava und kamen mit goldenen Sandalen zurück – nach Kaiserslautern. Und eines ahnten, nein, wussten wir natürlich auch damals schon: Männer mochten Bikinis, Frauen in Bikinis.

Einen realistischen Blick auf Badeanzüge gebe es nicht, sagte jüngst Rankin, der Londoner „Hoffotograf  von Cool Britannia“(Times) sehr weise. Bikinis und Badeanzüge, meinte er, seien nichts weiter als verpackter Sex. Stimmt, zumindest bei Rankin. Wenn er Badeanzüge fotografiert, dann geht er hart ran an die Schamgrenze der gewerblichen Gesten. Viele scharfe Posen, wenig Textilien. Der Mann kommt aus dem Underground, er hat Kult-Magazine wie Dazed&Confused  gegründet, er weiß, was ankommt, aber auch was reizt. Zumindest die Männer. Ob die Frauen das auch immer uneingeschränkt reizend finden, sei dahingestellt. Rankin jedenfalls kann nicht anders: „Ich mache solche Bilder als Mann. Frauen  können sich ja die Badeanzüge angucken.“ (Stern, 30.4.2003)

Mehr als genau gucken sich Frauen zweiteilige Badeanzüge an. Warum ist klar: Bikinis machen Frauen nervös. Selbst Supermodels reagieren bei diesem Kleidungsstück schnell panisch, enthüllt es doch erbarmungslos jede Schwachstelle ihres physischen Betriebskapitals. Eva Herzigova, die Urmutter der Wonderbras, ist der beste Beweis dafür, wie streng Frauen sich und ihre Badetextilien unter die Lupe nehmen. Als sie jüngst – des Modelns wohl ein wenig überdrüssig – ihre erste Bademodenkollektion in Paris zeigte, packte sie aus mit der Wahrheit über das Leben mit der Bikinizone: „Frauen gehen durch ein monatelanges Trauma, um sich für die Zeit zu präparieren, in der sie ihre Kleider ablegen müssen.“ (FAZ Sonntagszeitung 12.10.2003) 

Nirgendwo auf der Welt beherrschen Frauen die prekäre Kunst  des Enthüllens und Verhüllens so virtuos wie in Rio de Janeiro. Europäerinnen seien allerdings gewarnt, denn sie können dort ein nachhaltiges Bikini-Trauma davontragen. Sich bademodentechnisch unvorbereitet an die Copacabana zu begeben, ist ähnlich leichtsinnig wie eine Besteigung der Eigernordwand in Badeschlappen. Ja, das klingt vielleicht ein bisschen überdreht, aber es ist das faktengesättigte Ergebnis einer investigativen Vorort-Recherche – besser, nein, ehrlicher gesagt eines unfreiwilligen Selbstversuchs, in den ich einmal in den 90er Jahren – bademodentechnisch vollkommen unpräpariert! – hineingestolpert bin.

Während einer Reportage über das Kulturleben in Rio de Janeiro gönnte ich mir einen Ausflug an die Copacabana – nach getaner Arbeit versteht sich. Modisch wähnte ich mich bestens gewappnet in einem Zweiteiler von Dolce & Gabbana, erstanden in einer Avantgardeboutique in Paris – rive gauche natürlich. Aktueller ging es wirklich nicht, zumindest nicht in Europa: schwarzes Bandeau-Oberteil, dazu ein zweilagiger Slip in rot-schwarz, der je nach Laune unter den Hüftknochen fixiert oder bis zur Taille hochgerollt werden konnte.

Dieser Hauch von Lycra in Größe 36, der mir noch kurz zuvor an der französischen Atlantikküste etliche Coolness-Punkte eingebracht hatte, machte mich an den Gestaden von Rio bei ungefähr 50 Grad gefühlter Außentemperatur innerhalb von Sekunden zu einem monströsen Elefantenmenschen. 

Mit Pudelmütze und grobgestricktem Norweger-Pulli hätte ich kaum mehr Aufmerksamkeit erregen können. Keine Frau weit und breit hatte soviel Stoff am Leib wie ich. Keine, nicht die Dicken, nicht die Alten, absolut keine! Alle trugen sie winzig, winzig, winzig kleine Tangas; ja, alle! Die Blicke sprachen Bände, wobei die mitleidigen noch die erträglichsten waren. – Seit jenem denkwürdigen Badeausflug hat das Wort Bikini für mich einen neuen, sagen wir vielschichtigeren Klang bekommen und der Begriff ‚overdressed’ ebenfalls.

Die Vorstellung, dass moderne Frauen mir nichts dir nichts in ihre Bikinis oder Badeanzüge schlüpfen und sich an den Strand begeben, ist ohnehin, gelinde gesagt, naiv. Der Gang ins Wasser ist für das Gros der Frauen immer ein heikler. Das verraten unter anderem die opulenten Checklisten, die Frauenmagazine jeden Frühling für den Start in die Badesaison aufbereiten. Die Masterpläne für den optimalen Bikini-Auftritt haben heute die Dimension eines Raumschiffcountdowns erreicht.  Was sich in den 70er Jahren noch in Gymnastik- und Diätempfehlungen erschöpfte, wird heute zum minutiös ausgearbeiteten Beauty-Schlachtplan.

Über all den schweißtreibenden Workouts entfällt uns leicht, dass es erst rund 45 Jahre her ist, dass Frauen wirklich unbehelligt in Bikinis baden gehen können. Bewusst sollten wir in diesem Zusammenhang vom Baden sprechen, denn Frauen, die ernsthaft und sportlich schwimmen wollen, haben ohnehin schon immer lieber einteilige und garantiert nicht rutschende Badenanzüge getragen.

Die Mode, sagt man, zeigt das Unbewusste einer Gesellschaft. Sie zeigt, was uns fasziniert, spiegelt unsere Sehnsüchte und unsre Ängste auch. Für die Halbnacktheit der Bademode gilt dies in ganz besonderem Maße, war sie doch  immer schon eine (Aufsehen) erregende und explosive Gefahrenzone – vor allem für diejenigen, die sich über Demarkationslinien der herrschenden Moral hinwegsetzten.

Um die Sprengkraft nackter Tatsachen muss auch Louis Réard , der erste offizielle Bikini-Créateur, bestens Bescheid gewusst haben. Naturellement war es ein Mann, ein Franzose und Maschinenbauingenieur noch dazu, der sich um die Freilegung der weiblichen Mitte verdient gemacht hat. Als er am 18. Juli des Jahres 1946 mit einer einfachen Zeichnung beim Pariser Patentamt vorstellig wurde, um unter der Nummer 19.431 einen zweiteiligen Badeanzug als Gebrauchsmuster anzumelden, ahnte niemand, dass jenes unscheinbare Kleidungsstück, einmal in der Nachkriegszeit ein wichtiger Zeuge der weiblichen Körper- und Emanzipationsgeschichte werden würde.

Dass Monsieur seinen patentierten Zweiteiler damals nach einem nuklearen Testgebiet benannt hatte, geriet ob der bombigen Wirkung des Kleidungsstücks schlichtweg in Vergessenheit. Vielleicht war die kollektive Amnesie auch nicht ganz zufällig, denn eigentlich stand der Name des kleinen zweiteiligen Badekostüms für einen der größten und – bis heute unbewältigten – Umweltskandale der Menschheitsgeschichte; und wer denkt schon gern an Unerfreuliches, wenn es auch itsybitsy leicht und bauchfrei geht.

Auch Monsieur Réard nahm die Dinge nie allzu schwer. Jedenfalls blickte er an seinem Lebensende ohne einen Anflug von ökologischer Einsicht auf sein zwiegespaltenes Œuvre zurück. In einem seiner letzten Interviews sagte der greise Connaisseur, eine Frau im Bikini sei doch wie eine wunderschöne Geschenkpackung: „Man will das Seidenband abmachen, die Schachtel öffnen und sehen, was drin ist.“ (WDR. Stichtag heute. 6.7.1999)

Was tatsächlich drin ist in Réards Überraschungspaket, meint offenbar jeder zu wissen – sozusagen aus dem sprichwörtlich hohlen Bauch ’raus. Ein winzig kleines Kleidungsstück, das nach ein paar exotischen Inseln benannt ist. Was soll schon Tiefgründiges dran sein am Bikini? Sicher, ein paar deftige Herrenwitze sind allemal drin und Palmenbilder natürlich en masse.

Wer den Bikini aufs Korn nimmt, muss sich an skeptische, ironische Kommentare gewöhnen. Die Reaktionen auf den Gegenstand meiner Recherche waren stereotyp und erfolgten lustigerweise immer in zwei Schritten. Phase eins: breites bis süffisantes Grinsen, kombiniert mit Ausrufen haltloser Begeisterung. Phase zwei hörte sich bis auf sehr wenige Ausnahmen immer gleich an: „Aber jetzt mal ernsthaft, was kann man denn über den Bikini überhaupt schreiben?“ Ganz Pfiffige erweiterten die Frage dahingehend, was man denn als heterosexuell orientierte Frau überhaupt an dem Thema finden könne.

Bis auf die Tatsache, dass mir im letzten Traumsommer, in dem dieses Buch entstanden ist, der Genuss des Bikini-Tragens aus Gründen der Arbeitsmoral eher selten vergönnt war, wurde es nie langweilig mit dem Zweiteiler. Und schon gar nicht als Frau! Eine solch spannende Zeitreise durch das vergangene Jahrhundert, so außergewöhnliche Grenzgänge zwischen Modegeschichte, Sittengeschichte, Geographie und Politik bietet der journalistische Alltag sonst eher selten.

Überraschenderweise führte die Route in Teilbereichen sogar in nahezu unerforschte Regionen. Der menschliche Bauchnabel beispielsweise, bestimmt kein marginales Terrain beim Thema Bikini, ist , so unglaublich es auch klingen mag, in enzyklopädischer Hinsicht terra incognita. Jeder hat einen Nabel und schon Kinder wissen, wie er zustande kommt. Seit ein paar Jahren hat ihn sogar die Mode ins Rampenlicht gerückt. Man zeigt ihn her, man schmückt ihn mit Edelmetallen und Brillanten. Aber wer weiß genau, was es in unserer Kulturgeschichte auf sich hat mit dem Nabel? Wie auch, wenn es das geballte Buchwissen des Abendlandes in Archiven und Bibliotheken nicht hergibt. Wenig Einträge, die mehr bietet als das, was wir ohnehin alle über unser Geburtsmal wissen.

So gar kein Land in Sicht gab es eine Weile bei der naheliegendsten Frage zum Zweiteiler: Was bedeutet das Wort Bikini? Ist doch klar, kombiniert der gewiefte Alltagslateiner. Bi steht immer fürs Zweifache und in diesem Fall wahrscheinlich für den Doppelpack an Weiblichkeit, um den sich – nicht nur beim Bikini – eigentlich sowieso fast alles dreht. Und was, bittschön, hat das kleine „-kini“ am Busen der Natur zu suchen? Schulterzucken. Keine Enzyklopädie, kein Fachbuch half weiter, in keinem Archiv von München über Köln bis Berlin fand sich eine Übersetzung der exotischen Vokabel.

Wie so oft, lag des Rätsels Lösung ganz nahe – und doch in weiter Ferne. Ein kurzer Briefwechsel mit Jack Niedenthal, dem Treuhänder und offiziellen Sprecher der Bevölkerung von Bikini, genügte und schon segelte des Rätsels Lösung über die pazifischen Weiten des elektronischen Datennetzes von den Marshallinseln nach Deutschland.

Email aus Bikini! – Ich muss es zugeben: Beim Öffnen der elektronischen Post pochte mein Journalistenherz vor Entdeckerfreude. Selten brachte Digitales soviel ozeanische Weite und Meeresbrandung mit sich. Und zu allem Überfluss wusste der Experte für alles ‚Bikinesische’ den Namen des fernen Atolls auch noch wunderbar anschaulich zu erklären: „Das Wort stammt aus dem alten Marshallesisch, und bedeutet wörtlich übersetzt ‚Land der vielen Kokosnüsse’. Schon die alten Seefahrer von Bikini hatten die Inselgruppe so genannt. Wenn sie von nördlichen Marshallinseln her auf ihre Heimat zusegelten, war der Horizont lange öde und leer, bis plötzlich die gewaltige Kokosnusspalmenriege ihres Heimat-Atolls vor ihnen auftauchte. Wenn die Männer nach vielen Wochen auf See wieder nach Hause fuhren, war dieser Anblick von Bikini für sie wie ein freundlicher Willkommensgruß.“

Voilà! Eigentlich hätte man es ja ahnen können, dass der Bikini mit fernen Reisen und Abenteuern zu tun hat, mit Sehnsucht und mit Heimweh nach dem paradiesischen Nabel der Welt. Und mit Männern natürlich auch.

Wenn die ganze Welt sich um uns dreht

Foto Wenn die ganze Welt sich um uns dreht

Mr. Hattric oder wie es zu diesem Buch kam

Seinen Namen habe ich vergessen, vielleicht habe ich auch nie gewusst, wie er hieß. Wie er aussah, weiß ich auch nicht mehr, und trotzdem würde ich viel darum geben, ihm heute noch einmal zu begegnen. Gerne auch mit geschlossenen Augen, denn ich würde ihn an diesem speziellen Duft erkennen, der sich aus frisch gestärktem Hemd, sonnenwarmer Haut, Hattric-Rasierwasser und Creme 21-Lotion zusammensetzte. Wenn ich daran denke, wie behutsam er mir auf dem Weg zur Tanzfläche den Arm um die Taille legte und dabei ein paar Sekunden lang den schmalen Hautstreifen zwischen meinem T-Shirt und dem Jeansbund berührte, bekomme ich heute noch weiche Knie.

Wie oft ich mit ihm getanzt habe, weiß ich nicht mehr. Aber das ist eigentlich auch unwichtig. Mein Gedächtnis hat die Discofox- und Stehbluesrunden, die ich mit ihm in den siebziger Jahren in der Tanzschule Gerdi Marquardt in Kaiserslautern gedreht habe, ohnehin zu einer Sehnsuchts-Endlosschleife vervielfältigt. Bis heute springt sie quasi automatisch an, wann immer ich mir auf Festen mal wieder die Beine in den Bauch stehe, weil das Verhältnis von tanzwütigen Frauen und tanzbereiten oder besser gesagt tanzbefähigten Männern zirka hundert zu eins beträgt.

Zuletzt wurde ich bei einer großen Party in Frankfurt an Mr. Hattric erinnert. Nichts deutete zu Beginn des Abends darauf hin, dass es eine jeder Parties werden würde, auf denen mich nur das innere Zwiegespräch mit meinem Traumtänzer von einst vor dem Absturz in die Depression retten sollte. Im Gegenteil: Alles, aber auch alles sah nach einem Wahnsinnsabend aus: illustre Gastgeber, grandiose Gästeliste, erlesenes Ambiente, feine Speisen, mehrere DJs und last but not least: ein Tanzparkett, das Fred Astaire die Freudentränen in die Augen getrieben hätte. 

Dort fanden sich im Laufe des Abends immer wieder ein paar Frauen ein, die tapfer und unermüdlich mit anderen Frauen vor sich hintanzten. Viele Männer postierten sich mit Blickkontakt zur Tanzfläche, hielten sich aber wechselweise so geschickt an ihren randvollen Gläsern und Tellern fest, dass niemand überhaupt auf die Idee gekommen wäre, sie bei dieser harten und abendfüllenden Arbeit zu stören.

Als ich gegen Mitternacht beschloss, den Abend als Negativposten unter der Rubrik War-mal-wieder-nichts-mit-Tanzen zu bilanzieren, steuerte der von mir sehr geschätzte Kollege G. energiegeladen und strahlend auf mich zu. Für einen Moment lang hielt ich die Luft an, erhob Kinn und Mundwinkel und postierte mich so tanzbereit wie nur möglich auf der Stuhlkante. Ja, war es denn die Möglichkeit, sollte der smarte G. tatsächlich mit mir tanzen wollen! – Wollte er nicht. Stattdessen rückte er einen Stuhl neben meinen, nahm im Schulterschluss neben mir Platz und fragte mich, wie es denn so ginge. Alles sei bestens, versicherten wir uns. Alles super.

Und dann saßen wir da, Seit an Seit und glotzten aufs Tanzparkett. Das ermattete Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, wurde alsbald überdröhnt von einer Einheiz-Offensive des dritten DJs, der endlich ahnte, wonach die müde Menge lechzte: Nacheinander legte er Sexbomb, Sexmachine und I Can’t Get No Satisfaction auf. Das heiße Medley riss zirka 30 Frauen direkt von den Stühlen. Auf dem Weg zur Tanzfläche zerrten sie ein paar Männer mit sich und taten mit ihnen das Unvermeidliche: abhotten wie in alten Zeiten. 

Alles, selbst ein Pogotanz wäre in diesem Moment besser gewesen als mit dem schönen G. in dösiger Schweigsamkeit zu erstarren. Als ich mich gerade erheben wollte, feuerte G. einen Satz auf mich los wie eine Elfmeterbombe: „Du sitzt hier rum und amüsierst dich ja bloß über die Bekloppten auf der Tanzfläche, die gar nicht tanzen können.“  Selten zuvor hatte ich Mr. Hattric so sehr herbeigesehnt. Nie hätte er mich derart aggressiv und noch dazu ohne jeden Anlass angeraunzt.

Fassungslos starrte ich G. an und hörte mich wie eine Idiotin verteidigend haspeln: Nein, er irre sich. Nichts täte ich im Augenblick lieber als tanzen, aber es betrübe mich schon seit ewigen Zeiten sehr, dass sich die Leute so schwer damit täten. – Bewusst vermied ich jedes kritische Wort über tanzmüde Männer! G. quittierte meine Einlassungen mit einem katzigen „Ach was!“ und sagte dann, er müsse jetzt unbedingt mal aufs Klo. Man sehe sich.   

Was war nur los? Warum nur tanzten so viele Männer so ungern? Eine Zeitungsmeldung der dpa hatte es jüngst sogar mit einer erschütternden Statistik belegt: 93% der Frauen tanzen für ihr Leben gern. Unter den Männern bekennen sich nur 11% zur Tanzlust. „Lass mich bloß mit dem Quatsch in Ruhe“, hatte mich mein Stiefsohn abblitzen lassen, als ich ihm zu seinem 16. Geburtstag einen Tanzkurs schenken wollte. Die Abfuhr hätte ich mir ersparen können. Erstens haben Drummer einer aufstrebenden Punkrockband wirklich Wichtigeres zu tun. Zweitens tanzen coole Kerle einfach nicht. Basta. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht das Geringste geändert. Erst wenn die harten Jungs ins reifere Alter kommen und in den Hafen der Ehe einzulaufen gedenken, fällt ihnen auf, dass sie außerstande sind, den Hochzeitswalzer zu tanzen, den sich ihre Zukünftige so sehr wünscht. Die ausgebuchten Hochzeitstanzkurse der Tanzschulen sprechen für sich.

Apropos Hochzeit. Anlässlich der Hochzeit meiner Freundin Betty schaute ich mir neulich den Film „Wedding Planer“ mit Jennifer Lopez an. Zugegeben, Bettys Hochzeit war ein willkommener Vorwand, ich hätte mir den Schmachtstreifen wahrscheinlich auch einfach so angesehen. Egal, jedenfalls gibt es in diesem Film eine Tanzszene, die mich wirklich aufwühlte, nein, aufbrachte: Hochzeitsplanerin Jennifer Lopez sitzt in einer lauen Sommernacht mit einem aufregenden Mann im Park. Sie fragt ihn, ob er mit ihr tanzen würde. Er überlegt für einen kurzen Moment. Dann tritt ein Parkwächter aus dem Gebüsch und ermahnt den jungen Mann, wenn ihn eine Frau frage, ob sie tanzen wolle, dann habe er gefälligst auch zu tanzen. Das sitzt. Der junge Mann steht auf, nimmt Jennifer Lopez in den Arm. Im Hintergrund Mondnacht, romantische Musik. Er wiegt sie bärig kurz von einem Bein auf das andere und wieder zurück. Daraufhin kreischt Lopez hysterisch: „Huch, du kannst ja tanzen! Bist du schwul?“ – Nun ist aber Schluss, jaulte ich auf. So ein Stuss kann doch nicht unzensiert weltweit über die Mattscheiben laufen. Jedenfalls fiel in diesem Moment mein Entschluss, dieses Buch zu schreiben.

Ein Brief der Kölner Tanzschule Schulerecki, der mir anderntags wie ein Wink des Schicksals ins Haus flatterte, bestätigte mich in meinem Vorhaben: „Ihre Tochter ist seit kurzem in einem unserer Tanzkurse angemeldet. Wir freuen uns über die Teilnahme, haben aber in dieser Saison ein großes Problem. Wie in allen Tanzschulen in Deutschland melden sich auch bei uns für einen typischen Schüler- und Jugendkurs mehr Mädchen als Jungen an. Das Verhältnis liegt etwa bei zehn Damen zu sechs Herren. Wir gleichen das Defizit in der Regel mit ‚ehemaligen’ Tänzern aus, die den Kurs  schon einmal besucht haben und nochmals kostenlos wiederholen dürfen, den so genannten ‚Gastherren’ oder ‚Hospitanten’.“

„Macht doch nix“, beruhigte ich meine Tochter, „mit den guten Tänzern macht das Ganze doch auch viel mehr Spaß“. „Fein“, dachte ich insgeheim und wünschte ihr einen Gastherren wie Mr. Hattric an den Hals und am besten auch noch zwei kleine Italiener.